Andrea Weber and Sula Anderegg

Andrea Weber (Hebamme)
Sula Anderegg

Andrea Weber und Sula Anderegg
Geschäftsführerin Schweizerischer Hebammenverband (SHV) und Vorstandsmitglied SHV und Vertreterin in der Still-Allianz

Welche Stellung in politischer und gesellschaftlicher Sicht hat das Stillen derzeit in der Schweiz?

Andrea Weber, Sula Anderegg: Die Vorteile der Muttermilch sind bei Schwangeren bekannt; sie wissen, dass Stillen für ihr Kind gesundheitliche Vorteile bringt. Das merken wir in den Beratungen heutzutage. Detaillierte Aufklärung wie vielleicht vor 20 Jahren ist nicht mehr nötig, wo es auch darum ging, Vorurteile abzubauen.

In der Politik wie in den Medien, so sehen wir es als Verband, ist Stillen aber immer wieder ein kontroverses Thema. Stillende Politikerinnen stossen bei Kolleginnen und Kollegen auf Unverständnis im Parlament. Ein Beispiel ist der lange Kampf um ein Stillzimmer im Bundeshaus. Wir begegnen immer wieder Bürgerinnen und Bürgern, die sich daran stören, dass Mütter in der Öffentlichkeit stillen. Im Gespräch mit Hebammen und aus meiner eigenen Erfahrung als langjährige selbständige Hebamme merkt man, dass Stillen in der Gesellschaft ein kontroverses Thema ist und bleibt. Man hört auf der einen Seite, dass das Stillen ins Private gehört, und der anderen Seite, Stillen sei doch überall selbstverständlich. Diese gegensätzlichen Haltungen haben sich noch nicht verändert, und das ist eine eher traurige Erkenntnis.

Allerdings denken wir, dass gerade heute für die Stillförderung ein ideales Zeitfenster besteht angesichts der Diskussionen um Diversität und Geschlechterrollen. Hier wandelt sich etwas in der Gesellschaft. Die «Care»-Arbeit bleibt nicht mehr nur auf die Mutter – oder den Mensch mit den nährenden Brüsten – beschränkt. Care Arbeit wird in einem breiteren Blickwinkel gesehen. Der Vater spielt eine grössere unterstützende Rolle. Es braucht in der Gesellschaft und im Kreis der Berufsfachleute generell noch mehr Ideen und Kreativität in diesem Bereich, und wir müssen diese Diskussionen unermüdlich weiterführen.


Wie hat sich die Situation bezüglich Stillraten und gesellschaftlicher Akzeptanz in den letzten 20 Jahren verändert?

Die Daten aus der SWIFS-Studie, die alle 10 Jahre durchgeführt wird, zeigen, dass sich die Stillprävalenz initial – also das Stillen unmittelbar nach der Geburt – von 2003 auf 2014 um 3% auf 95% erhöht hat, ein Erfolg auf schon hohem Niveau. Auch bei der Stilldauer in den ersten 4 Monaten und bis zum 6. Monat hat sich eine leichte positive Verschiebung ergeben. Dann geht aber die Stillrate ab dem 7. Monat rasant nach unten. Diese Zahlen zeigen, dass die Akzeptanz für das Stillen zunimmt, dass die Frauen grundsätzlich stillen wollen, aber aus unterschiedlichen Gründen ab dem 4. Monat schleichend, und ab dem 6. Monat rasch aufhören. Der Vorstellung der WHO entspricht dies nicht. Uns ist bewusst, dass es Frauen gibt, die lange stillen. Sie werden aber im derzeitigen Design der SWIFS-Studie nicht abgebildet, weil sie eine zu kleine Gruppe darstellen. Die Hauptgründe für das Abstillen bleiben dieselben: 24% Prozent der Frauen stillen vor der Rückkehr zur Arbeit ab, weil sie Stillen und Arbeit nicht vereinbaren können. Das ist eine wichtige Information an die Politik und die Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber. 

Aus der Gesundheitsbefragung des Bundesamtes für Statistik geht ausserdem hervor, dass ein positive Stillerlebnis beim ersten Kind massgeblichen Anteil daran hat, ob Mütter beim zweiten oder gar dritten Kind mit einer positiven Einstellung zu stillen beginnen. Das ist eine wichtige Erkenntnis für die Hebammenarbeit. Denn es ist ein weiterer wichtiger Abstill-Grund, wenn das Stillen beim ersten Kind nicht erfolgreich verlief. Deshalb ist die Verarbeitung des Still-Erlebnisses beim ersten Kind, die Anamnese, so wichtig, damit die Mutter motiviert in die nächste Stillzeit einsteigen kann. Da können Hebammen einsetzen.

Wir erachten die Still-Untersuchungen wie die SWIFS als sehr wichtig. Wir könnten uns aber vorstellen, dass die Daten in höherer Frequenz, also vielleicht alle 5 Jahre, erhoben werden. Wir haben gegenüber dem BLV auch geäussert, dass es ein neues Setting für die Umfrage bräuchte, um eine grössere Gruppe von Frauen zu erreichen. Die immer noch bescheidene Datenlage ist ein Problem.


Wo sehen Sie in naher Zukunft die grössten Herausforderungen für die Förderung des Stillens in der Schweiz? Was können Verbände und Institutionen wie der Hebammenverband hier beitragen?

Die Fragmentierung bei der Begleitung der Mutter in einer sehr vulnerablen Phase ist eine grosse Herausforderung. Denn von der Mutter wird bei diesem oft sehr intimen Thema erwartet, dass sie flexibel ist und zu verschiedenen Ansprechpartnerinnen immer gleich vertrauensvoll sein soll.

Wir müssen auch auf politischer Ebene aktiv werden. Wir haben deshalb zusammen mit anderen Partnern wie der Stillförderung Schweiz, männer.ch oder regenbogenfamilien.ch beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Änderung des KLV-Artikels 15 (Stillunterstützung) verlangt. Dazu bewegt haben uns die neue Situation, die durch die Annahme von «Ehe für alle» entstanden ist, und aktuelle Erkenntnisse aus der Hebammenarbeit. Wir verlangen, dass die bezahlten Stillberatungen von drei auf fünf erhöht und Stillberatungen schon in der Schwangerschaft zugelassen werden, um Frauen mit einer Gestationsdiabetes und andere Risikogruppen, wie erwartete Früh- oder Mehrlingsgeburten, schon früher betreuen zu können. Auch sprachlich wollen wir von «Stillberatung» wegkommen und zu «Ernährungsberatung» wechseln. So können wir das Wissen der Hebammen auch nicht-stillenden Menschen zukommen lassen. Wir wollen neue Gruppen, wie Männer in homosexuellen Beziehungen ansprechen, die ein Kind nach einer Leihmutterschaft adoptiert haben und sich auch um die Ernährung kümmern müssen. Eine Antwort des BAG steht noch aus.


Kann man auch auf gesellschaftlicher Ebene noch etwas verändern, oder ist hier das Potential ausgeschöpft?

Wichtig ist es, dass wir uns immer wieder über Gründe für das Abstillen bewusstwerden. Dazu dienen die gutbesuchten Weiterbildungskurse für unsere Hebammen. So können wir wichtige Informationen über unsere Hebammen direkt zu den Müttern bringen. Die genannten Erhebungen zeigen, dass Mütter die Beratung durch Hebammen oder andere Fachpersonen sehr hoch einschätzen.


Müsste man denn kommunikativ etwas mehr unternehmen? 

Auch bei der Kommunikation müssen wir uns immer wieder fragen, wen wir ansprechen – Fachleute, Mütter, Menschen, die für die Ernährung von Neugeborenen und Kleinkindern verantwortlich sind? Hier können wir neue Ideen umsetzen, Influencerinnen und social media breiter nutzen, die Basis noch direkter ansprechen. Da sind Themen relevant «wie machst Du denn das, wie geht das mit Zvieri und Spielgruppe und…», also Austausch auf Instagram-Level, im Sinne der Dimension «Peer to Peer»!


Welchen Wert sehen sie in einer engen Verknüpfung von Stillorganisationen und der Idee der Still-Allianz?

Ganz wichtig scheint uns der interprofessionelle Aspekt, der hier zum Tragen kommt, ein gemeinsames Vorgehen von Fachleuten aus verschiedensten Berufen, die nach einem Konsens suchen und im engen Austausch sind. Das gibt dem Stillen gegenüber Politik und Wirtschaft ein grösseres Gewicht, bei Arbeitgebern, KMUs und staatlichen Verwaltungen. Diese Vernetzung unter der Leitung der Stiftung ist sehr wichtig. Sie kann und soll strategisch eine Führungsposition im Hinblick auf die Erarbeitung einer unbedingt nötigen «Nationalen Still-Strategie» spielen. Für die politische Lobbyarbeit braucht es grosse Player, wie die Stiftung, um Erfolg zu haben. Es ist auf der einen Seite sehr erfreulich, dass sich eine private Stiftung sich für das Stillen stark macht auf der anderen Seite traurig, dass das Stillen in der breiten Bevölkerung und auch in der Politik so wenig Unterstützung und Anerkennung findet!


Wie kann die Stiftung als «Motor» einer Allianz im Hintergrund wirken?

Hilfreich ist die Tatsache, dass die Stiftung anerkanntes und breites Know-how mitbringt, schon seit längerer Zeit ein klares Zeichen für das Stillen und den Wert der Muttermilch in der Öffentlichkeit setzt und mit diesem Bemühen sichtbar ist. Und klar: Die kleinen Berufsverbände der Stillberaterinnen, Mütter-Väter-Beraterinnen, Hebammen, Pflegefachleute haben beschränkte Budgets. Da kann eine Stiftung mit entsprechenden Ressourcen als treibende Kraft einen enorm wichtigen Beitrag leisten.

In der Allianz geht es dann auch um Überlegungen, welche gemeinsamen Kampagnen möglich sind, hinter denen alle mit ihrem Fachwissen, mit ihrer Ethik, mit ihren Werten und Normen stehen können. Da müssen wir Sorge tragen, dass sich Frauen oder stillende Menschen nicht in eine Ecke gedrängt fühlen, weil wir ihnen das Gefühl geben, sie «müssten» stillen. Stillen ist wichtig, aber wir sind auch für die anderen Frauen da. Wir wollen da inklusiver denken, wollen Frauen berücksichtigen, die nicht oder 20% stillen und ihr Baby sonst anders ernähren. Diese – das zeigen die Studie genau – gilt es zu behalten, zu motivieren. Statt zu sagen «ok, das sind halt nur 20%», sollten wir sagen «Super, 20%!», also vielleicht ein-, zweimal pro Tag, «lass uns das durchschaukeln und dir die Unterstützung seitens der Stillberatung geben, damit du mit deinem Modus auch auf 8,9,10 Monate kommst.» Das ist für mich die Zukunft, im Sinne von «Toleranz». Wegkommen von der starren Unterteilung, zum Beispiel der SWIFS-Studie in «Voll stillen» und «Teilweise stillen», weil es viele Abstufungen gibt, für die Frauen eine direkte, adressatengerechte Information verdient haben.