Professor Dr. Giancarlo Natalucci
Direktor des Larsson-Rosenquist Stiftung-Zentrum für Neuroentwicklung, Wachstum und Ernährung des Neugeborenen (LRF NGN), Universität Zürich
Sie untersuchen, in welcher Weise Stillen, Muttermilch, die Ernährung generell, die familiäre Umgebung und die Umwelt die neurokognitive Entwicklung von Kindern beeinflussen. Wie können sie damit Kindern helfen, ihr volles Potential zu entfalten?
Wir wollen über klinische und molekulare Forschung die Mechanismen im Zusammenspiel aller dieser Faktoren besser verstehen. Dann können wir in Zukunft Fachpersonen wie Kinderärzte, Stillberaterinnen, Hebammen, Betreuer, Spitalpersonal und die Eltern und ihr familiäres Umfeld besser auf wichtige Entscheidungen vorbereiten. Wir können sie in Zukunft besser darüber informieren, inwieweit das Stillen selbst, aber auch die Unterstützung der stillenden Mutter durch Väter, Familien und Gesellschaft einen Einfluss auf die neurokognitive Entwicklung eines Kindes haben. Damit schaffen wir ein besseres Verständnis für die physiologischen und verhaltensbezogenen Aspekte der Muttermilch und wie all die verschiedenen Faktoren zusammenwirken. So können wir wirksamere Fördermassnahmen vorschlagen.
Wie setzen Sie Ihre Forschungsergebnisse in die tägliche klinische Praxis um?
Von uns werden zum einen wissenschaftliche, evidenzbasierte Forschungsresultate erwartet, damit wir die Medizin, Ärzt:innen, Pflegepersonal von nötigen Änderungen überzeugen können. Darüber hinaus wollen wir verschiedenste Zielgruppen in der Gesellschaft erreichen und müssen dazu unsere Ergebnisse allgemeinverständlich zugänglich machen. Wir stützen uns auf die wissenschaftlichen Studien, aber es braucht andere Kommunikationsformen, wenn wir Familien beraten, die mit ihren Babys aus dem Spital nach Hause kommen, wenn wir an Veranstaltungen und Workshops eine andere Wahrnehmung des Stillens und der frühkindlichen Ernährung thematisieren, wenn wir darüber sprechen, wie man den Transport von Muttermilch zu den zu früh Geborenen ins Spital vereinfachen könnte, und wenn wir mit dem Gesundheitswesen sprechen, wo zukunftsweisende Gesundheitsprogramme entworfen werden.
Welche Forschungsprojekte fassen Sie denn ins Auge?
Mit dem umfassenden, langfristigen Forschungsprojekt LEARN, in dem wir zusammen mit dem Universitätsspital und weiteren Spitälern im Kanton Zürich bei bis zu 2’000 Kindern den Einfluss von Ernährung und familiärer Umgebung erforschen wollen, werden wir Erkenntnisse gewinnen, die der gesamten Gesellschaft zugutekommen. In Zukunft denken wir an weitere Studien mit Kindern, die mit zusätzlichen Risiken zur Welt gekommen sind, um besser zu verstehen, wie diese Risiken ihre neurologische Entwicklung beeinflussen. Da geht es um intensive Aspekte der Medizin, aber bei der Ernährungsberatung, die auch ausserhalb des Spitals und schon vor der Geburt einsetzen kann, sehen wir Muttermilch zunächst als beste Lösung. Aber wir denken da ganzheitlich: Es kann sein, dass die Mutter eine wichtige Therapie braucht und dadurch ihre Milch für das Baby nicht mehr verträglich ist. Da suchen wir dann andere Lösungen.
Die neurologische Entwicklung unter dem Aspekt von Stillen und Muttermilch war bisher weder ausreichend finanziert noch erforscht. Was hat die Zusammenarbeit mit der Stiftung hier bewirkt?
Die Aspekte, die wir beleuchten wollen, sind sehr wichtig, aber extrem komplex. Wir haben das biologische System «Muttermilch», das Kind, die Mutter, die Familie, die Ernährung, die alle ineinander spielen. Deshalb wurde das Thema in der Forschung noch nicht im Detail angegangen. Aus ethischen Gründen können wir zum Beispiel nicht Gruppen von Kindern bilden, die mit oder ohne Muttermilch ernährt wurden. Wir sind Kohortenstudien angewiesen, die umfassend sein müssen und deshalb viele Ressourcen brauchen. Nur dank der Stiftung können wir solche ambitiösen Forschungsprojekte, die immer auch sehr interdisziplinär angelegt sind, überhaupt auf den Weg bringen. Den Mut dazu kann ich dank der Stiftung haben! Später kann ich dann das Interesse anderer Institutionen gewinnen.
Wie wirkt sich der fehlende Zeitdruck aus, der sich aus der spezifischen finanziellen Ausgestaltung des Lehrstuhls durch die Stiftung ergibt?
Ich werde von vielen Kollegen weltweit immer wieder gefragt, wie es mir möglich sei, solch komplexe, zeitintensive Forschungsvorhaben anzugehen. Da wird mir immer wieder bewusst, von welch unschätzbarem Wert die Unterstützung der Stiftung ist, dass wir diese Art von Forschung über Jahre hinweg betreiben können. Unser Forschungsgebiet ist wichtig, nimmt doch das Thema Ernährung in den Vorsorgeuntersuchungen und Beratungen in den ersten Lebensmonaten einen Drittel oder mehr der Zeit ein! Aber ebenso wichtig ist, dass wir langfristig nach nachhaltigen Wegen suchen können, wie wir dieses Wissen – in angepasster Form, natürlich – in LMIC-Länder transferieren und dort operativ wirksam werden lassen. Diese Frage stellt sich auch für die Schweiz! Dabei ist mir der intensive Austausch mit Katharina Lichter, mit dem Team der Stiftung und mit den vier anderen Forschungszentren enorm wichtig.