Professor Nikola Biller-Andorno

Nikola Andorno Biller

Professor Nikola Biller-Andorno
Universität Zürich, Studienleiterin, EFBRI – Ethikleitlinien als Orientierungshilfe für Forschung und Interventionen im Bereich Stillen

Wie entwickeln Sie die EFBRI-Module für Forschende, Entscheidungsträger und klinische Fachkräfte, die direkt mit Müttern und Säuglingen arbeiten, und wie kann das kommende Interventionsmodul von EFBRI von ihnen genutzt werden?

Eine Dimension in EFBRI umfasst die klinische und vorklinische Still-Forschung mit vielen vulnerablen Gruppen, wie Säuglingen, Frühgeborenen, Schwangeren, postpartalen Frauen, Müttern nach der Geburt in der Stillzeit, Angehörigen, Partnern. Die Stiftung entwickelt sich global, und so müssen wir über diese Fragen nicht nur in einem Schweizerischen, sondern auch in ressourcenärmeren Kontexten nachdenken. Wenn wir in diesem Bereich Forschung betreiben, was wichtig ist, um über diese Populationen mehr zu lernen, dann brauchen wir ein sorgfältiges ethisches Rahmenwerk. Es gibt hier einschlägige Regeln, wie die Deklaration von Helsinki. Die sagt aber nichts Explizites zu schwangeren und stillenden Frauen. Andere, wie CIOMS-Guidelines (Council for International Organisations of Medical Sciences), behandeln die ethischen Fragen der Forschung mit schwangeren und stillenden Frauen nur ganz knapp. Relevante Informationen sind über verschiedenste Dokumente verteilt. Wir haben deshalb diese Regeln mittels einer Literaturrecherche entlang des breiten Aktivitätsportfolios der Stiftung konsolidiert. Daraus ist die Synopsis EFBRI 1.0 entstanden, die als pdf zugänglich ist. Wir hoffen, mit interaktiven digitalen Präsentationsmöglichkeiten dereinst noch weiter gehen zu können.

Nun hat sich die Stiftung dahingehend entwickelt, dass sie nicht im Akademischen verweilen, sondern Programme gezielt fördern will, durch die für Frauen die Möglichkeit zum Stillen geschaffen werden. Wir haben festgestellt, dass es im Bereich der Implementierung zwar allgemeine Prinzipien gibt, dass dieser Bereich aber viel weniger konturiert und reglementiert ist. Für einen Überblick haben wir einen Scoping-Review gemacht, der, so hoffen wir, bald zitierfähig sein wird. Besonders prominent war die Frage nach der Spannung zwischen der Autonomie der potenziell stillenden Frau, oder der Frau, die gerade ein Kind geboren hat, und dem Public Health-Anliegen, dass möglichst viele Kinder gestillt werden. Es geht um die Frage, mit welchen Anreizen man versuchen darf, Frauen zum Stillen zu bewegen, oder ob man nicht eher schauen sollte, die Umgebung generell so zu gestalten, dass das Stillen erleichtert wird. Um diese Frage, welche Mittel legitim sind, um Public Health-Ziele zu erreichen, kreist viel in der Ethik-Literatur.


Sie bitten um Feedback und Vorschläge von EFBRI-Nutzern, um künftige Versionen nach deren Bedürfnissen zu gestalten. Was hören Sie? Wie wird sich EFBRI Ihrer Meinung nach weiterentwickeln, um den sich ändernden Bedürfnissen und Situationen gerecht zu werden?

In Kleinarbeit haben wir eine Vielzahl an Interventionen, die im Rahmen einer umfassenden Literatur-Recherche in einer Datenbank, zusammengetragen wurden, untersucht, vorkommende Aktivitäten in einer Datenbank zusammengefasst und, die einzelnen Interventionen klassifiziert und für die Diskussion mit Praktikern mit «red flags» versehen. Daraus ist bottom-up ein validiertes Framework, ERFBRI 2, entstanden, das wir nun in der ersten Version der Fach-Community vorstellen werden. Dieser Austausch ist uns sehr wichtig. Das ist auch der besondere Reiz in der Zusammenarbeit mit der Stiftung, dass sie dieses globale Netzwerk von Implementierungspartnern hat, mit dem wir die Diskussionen führen können. So werden wir demnächst eine Fallstudie gemeinsam mit Kollegen in Ghana durchführen, um Kommentare verschiedener Akteure aus dem Feld zu bekommen. Wir werden diese Einsichten durch eine internationale Delphi-Studie konsolidieren, um einen Konsens herzustellen. Diese Prozesse, die helfen, ganz nahe an der Praxis zu sein, wurden bei uns gerade auch durch die Zusammenarbeit mit der Stiftung in Gang gesetzt.

Idealerweise könnten wir uns die Anwendung dieses Frameworks so vorstellen, dass sich ein Ministerium zu einer Intervention entschliesst. Wir haben in unserem Framework dazu festgehalten, wo die «red flags» bei dieser Intervention sind und auf welche ethischen Fragestellungen besonders zu achten wäre. Dabei verbieten wir nicht, sondern machen auf kritische Punkte aufmerksam, wie auf die Frage nach finanziellen Anreizen bei Interventionen. Wenn die Interventionen umgesetzt werden, lernen wir weiter, erkennen, welche anderen ethische Fragen auftreten. Diese Erkenntnisse können wir in Form von Fallstudien, sei es in schriftlicher Form oder vielleicht als Videos, zurücktragen, als weiteren Puzzlestein. Diese Investitionen lohnt sich, wenn man wie die Stiftung an effektiven, aber ethisch sorgfältig reflektierten Implementierungsmassnahmen interessiert ist.

Dabei ist es wichtig, an ganz verschiedene Nutzergruppen zu denken, nicht nur an Forschende, sondern Policy Makers, Kliniken oder die Betroffenen selbst, die dann Nutzniesser dieser Implementierungsmassnahmen sind. Deshalb ist uns auch die Interdisziplinarität ein grosses Anliegen.


Unsere Welt, die Ethik und die ethischen Überlegungen zur Still- und Laktationsforschung entwickeln sich weiter. Worauf sollten Still- und Laktationsforscher oder Implementierungsspezialisten besonders achten?

Sie müssen sich zum Beispiel immer wieder bewusst sein, wie Vulnerabilität entstehen kann. Man könnte schwangere Frauen oder Mütter gleich nach der Entbindung wohl in jede Studie locken, wenn sie denken, dass sie damit ihrem Kind helfen. Bei diesem Konflikt muss man genau hinschauen, und das ist manchmal komplex: Ist das wirklich ein guter Case, der der Mutter, aber auch ihrem Partner, ihrer Familie etwas nützt? Rechtfertigt das Nutzen-Risiko-Verhältnis die Belastungen für die Mutter? Auch bei finanziellen Anreizen ist die Unterscheidung nicht immer so klar, ob man etwas bezahlen darf oder nicht. Wenn auch der internationale Konsens ist, dass Spesen erstattet werden dürfen, liegt der Teufel im Detail: Was kann als Spesen verstanden werde? Oft kann eine Implementierung eines Programms genau an solchen Detailfragen scheitern.

In einem ethischen Framework können wir nur die Prinzipien darlegen. Was es im Einzelfall bedeutet, können erst Fallstudien aufzeigen. Weil sich so viel differenziert und stark wandelt, müssen wir auf die Fähigkeiten der relevanten Akteure setzen, über solche Fragen nachzudenken und in den Diskurs einzutreten. Wir als Ethikerinnen und Ethiker können diese Diskurse moderieren, Überlegungen anstossen, auf blinde Flecken verweisen, nach Bias und Interessenkonflikten fragen, die Akteure ermutigen, ihre eigene Positionierung zu überdenken. Was sicher nicht sein soll – das wäre der Bankrott jeder Ethik – ist, dass wir eine abschliessende Liste der Antworten liefern!

Um der Realität nahe zu kommen, versuchen wir, systematisch vorzugehen. Deshalb auch der Versuch, die Interventionen in strukturierter Weise aufzuführen und ethische Guidlines für eine Liste von verschiedenen Interventionstypen anzubieten, für die die Stiftung bereits eine wirkungsvolle Klassifizierung erarbeitet hat. Gleichzeitig aber ist es keine gute Idee, alles zu 100% durchzudeklinieren. Das haben wir von der Stiftung gelernt! Wenn wir Dinge zu 80% erfasst haben, können wir zwar die anderen 20% nicht sausen lassen, aber wir können sie im konkreten Fall diskutieren, wenn sie relevant werden. Eine gröbere Granularität ist oft durchaus tauglich, um ein funktionierendes System zu schaffen, deshalb auch die Idee vom lernenden System: Nicht warten, sondern mit dem Entwurf in die Community rausgehen, konstant überarbeiten, konstant besser werden.


Was waren - und sind - die wichtigen Aspekte und Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit der Stiftung als Partnerin, die vielleicht auch anders sind als mit anderen Institutionen?

Ein besonderes Kennzeichen in unserer Zusammenarbeit mit der Stiftung ist die mittel- bis langfristige Perspektive, die heutzutage ja ein solcher Luxus geworden ist. Wir können gemeinsam über die üblichen 3-4 Jahre hinaus an einem Thema dranbleiben. In anderen Fällen kann man nach 36 Monaten nochmals ein Nachfolgeprojekt vorschlagen, das aber innovativ sein muss, oder wir müssen ein ganz neues Feld finden. Da bin ich oft auf einen relativ kurzen Zeithorizont zurückgeworfen.

Es ist wirklich ein sehr inspirierender Prozess: Wir können über einen langen Zeitraum Probleme, die sich auch der Stiftung immer wieder neu stellen, diskutieren. Wir sehen uns mit praktischen Herausforderungen konfrontiert, wir erhalten Feedback, wir können sehr bedarfsorientiert auf konkrete Wünsche der Stiftung reagieren, entsprechenden Output liefern und intensiv darüber in Workshops diskutieren. Da besteht absolut ein Dialog zwischen den beiden Parteien. Das ist für uns reizvoll, denn nichts ist frustrierender in der praktischen Ethik, als Ideen zu produzieren, die fürs Feld komplett irrelevant sind.